ÜBER DIE STADT UND DAS DORF
Martin Summer
Wir leben gerade in einer merkwürdigen Zeit. „Angst liegt in der Luft”, hörte ich kürzlich jemanden sagen. Seit fast zweieinhalb Jahren ist alles irgendwie anders. Merken Sie das auch in Ihrer Arbeit? Haben sich die Bedürfnisse seitens der Menschen verändert?
Nadler-Kopf: Ich bin überzeugt, dass die wesentlichen Bedürfnisse gleich bleiben. Es gibt immer wieder Trends. Auch ist klar, dass mit den veränderten Bedingungen mehr Menschen beispielsweise im Home Office sind und ein Raum eventuell umgestaltet werden muss. Generell aber habe ich gemerkt, dass solche Wohntrends der Mode unterworfen sind und oft nicht wirklich aus den Bauherren selbst stammen. Der Planungsprozess dauert bei mir rund ein Jahr. In diesem Zeitraum klären und prüfen wir die vorhandenen Bilder und Vorstellungen und schauen, was die Bauherren wirklich brauchen. Meine Häuser müssen in erster Linie das persönliche Raumprogramm bei einem vorhandenen Budget am vorgegebenen Ort lösen. Sie sollten aber eine zeitlose Gültigkeit besitzen. Die Menschen sind vielleicht individuell im Detail, haben aber die gleichen Grundbedürfnisse – ich glaube an eine Allgemeingültigkeit.
Gerade im Rheintal wachsen die Gemeinden immer mehr zusammen. Es wird verstärkt über die Dorfgrenzen gedacht und das Rheintal wird immer wieder als urbaner Lebensraum bezeichnet. Sind wir schon Rheintal-Stadt? Ist das überhaupt ein erstrebenswerter Zustand?
Nadler-Kopf: Ja, ich denke, das Rheintal wird zusammenwachsen - das können wir nicht mehr verhindern. Hier ist die Entwicklung bereits zu weit fortgeschritten, die Grenzen sind schon überschritten, damit müssen wir uns abfinden.
Wir können uns aber entscheiden, welchen Charakter diese Agglomeration haben soll und die entsprechenden Strukturen schaffen: es kann ja auch eine Agglomeration aus Einfamilienhäusern sein, eine Dorfstadt, mit urbanen Stadtzentren.
Das heißt, Städtisches und Ländliches sollte man trennen?
Nadler-Kopf: Ja, diese prinzipielle Diskussion wird leider in Vorarlberg zu wenig geführt. Wir sprechen nur über die Dichte in Zahlen – mit dem Ergebnis: ein Siedlungs-Einheitsbrei. Der Druck auf die Dörfer mit ihren Einfamilienhaus-Strukturen steigt dadurch enorm. Das ist sehr schade. Viele Architekten sprechen sich gegen das Einfamilienhaus aus, aber es gibt auch Kollegen, die das Gegenteil vertreten. Ich möchte hier auf einen Vortrag von Dietmar Eberle „Stadt und Atmosphäre” verweisen. Darin beschreibt er acht Stufen von Dichte. Seine Untersuchungen als Professor an der ETH Zürich haben ergeben: Die Menschen sind dort am glücklichsten, wo die höchste oder die niedrigste Dichte vorherrscht: in ganz dichten Räumen - also in den historischen Innenstädten – oder in sehr dünn besiedelten Räumen - also am Land, in den Dörfern. Alles dazwischen: Also dort, wo wir uns immer mehr hinbewegen, ist es für die Menschen nicht so attraktiv. Sein Credo: Lasst die Dörfer, Dörfer sein und konzentriert euch bei der Verdichtung auf die Städte. Er beschreibt ein Szenario, bei dem der gesamte Bebauungsdruck von Vorarlberg alleine durch eine theoretische 200-Meter-Zone höchster Dichte, analog Wien, 1.Bezirk, entlang des Vorarlberger Seeufers abgefedert werden könnte.
Architektur ohne Städtebau kann keinen urbanen Raum schaffen.
Beate Nadler-Kopf,
Architektin
Was bedeutet Stadt genau?
Nadler-Kopf: Stadt bedeutet geschlossene Bebauung und auch Begrenztheit. Grenzen eröffnen aber auch Möglichkeiten. Was wir hier in Vorarlberg versuchen ist das Städtische, die Urbanität mit offener Bebauung in jedem Dorf zu erzeugen. Das heißt: Auf jedem Grundstück steht ein Block, dann Zwischenraum, dann Block – daraus entsteht nichts Städtisches. Bei einer Blockrandbebauung – so wie wir das aus Städten wie Wien kennen – kann viel mehr Dichte generiert und der öffentliche Raum in Form von Plätzen, Straßenzügen, Innenhöfen et cetera bewusst gestaltet werden. Diese Bebauungsform steht leider bei uns überhaupt nicht zur Diskussion. Auch glaube ich, eine klare Trennung von städtischen und ländlichen Gebieten könnte dazu beitragen, die Grundstückspreise in den Dörfern wieder in den Griff zu bekommen.
Gibt es eine Lösung dafür?
Nadler-Kopf: Wir brauchen eine kreative, dreidimensionale Raumplanung bzw. Stadtplanung, die nicht über die Grundstücke plant, sondern über die Städte und Dörfer hinweg analysiert, plant und Visionen und Leitlinien für übergreifende Siedlungsstrukturen entwirft. Die Diskussion (und Energie) geht zu sehr auf die Qualität des Objektes und seine mögliche Dichte. Wir haben in Vorarlberg sehr gute Architekten und ich bin überzeugt, würden wir der Struktur im Städtebau mehr Bedeutung einräumen, könnte hier sehr viel Gutes entstehen. Ich komme aus einer Schule, in der der Städtebau noch an historischen Beispielen gelehrt wurde. Beispielsweise wurde während des Studiums in Innsbruck über die ganze Stadt selbst diskutiert und geplant. Heute ist die Einordnung von Entwürfen in den städtebaulichen Kontext nicht mehr Standard. Die Auswirkungen sind mittlerweile an unserer Baulandschaft ablesbar. Wir stehen hier in Vorarlberg vermutlich ganz oben, was die Ästhetik betrifft - bestgekleidete und zu Recht hochgelobte Solitäre, aber eben oft ohne Bezug zur Umgebung. Der Bruch zu den Dörfern und Städten mit ihren Identität und Orientierung stiftenden Ortsbildern ist von jedermann spürbar. Die Sehnsucht nach Authentizität stillt die moderne Konsumgesellschaft eben in den Seelenräumen der historisch gewachsenen Zentren, wo der öffentliche Raum noch als „Ort“ erlebbar ist. ( z.b. der Bregenzer, Dornbirner, Hohenemser, Feldkircher und Bludenzer Altstadt) Für eine Qualität der historischen Altstädte muß sich (scheinbarer) Individualismus jedoch einer tragenden Homogenität unterordnen. Hierzu vielleicht ein Beispiel: Ich durfte in der Hohenemser Marktstraße drei (denkmalgeschützte) Objekte umbauen, dabei ging es mir darum, die Nachbarhäuser und dadurch die ganze Straße zu stärken. Was bedeutete, nicht als Solitär herauszustechen. Zur Erklärung nehme ich auch gerne das Haas-Haus vis-a-vis des Stephansdomes in Wien. Seine Errichtung in den 1990er Jahren wurde heiß diskutiert. Ob einem das Haus gefällt oder nicht, sei dahingestellt, es ist verträglich, weil das Rundherum in seiner baulichen Homogenität so stark ist. Wir in Vorarlberg gehen aber in die Richtung, wo die Solitäre überhandnehmen und dadurch diese tragende Struktur geschwächt wird. Was es also bräuchte, sind städtebauliche Konzepte und Strukturen. In Form von Wettbewerben und Studien.
Vortragsreihe „Stadtimpulse“ – Dietmar Eberle: Dichte Atmosphäre
Das heißt auch, nicht jede Wiese müsste zugebaut werden, nicht jedes alte Haus müsste einer Wohnanlage weichen?
Nadler-Kopf: Genau. Gemeinsam mit Hannes Peer habe ich für die Stadt Bregenz ein Ortsbildinventar „Im Dorf” erstellt. Es ging darum, das Gebiet zwischen der Landesbibliothek und dem Palais Thurn & Taxis zu analysieren, zu bewerten und Vorschläge für eine künftige Bebauung und Verdichtung zu machen.
Wir haben hier ein Instrument entwickelt, Gebäude auf ihre Erhaltungswürdigkeit und Bedeutung für das Ortsbild zu prüfen, immer im städtebaulichen Kontext . Ein beispielhafter Beitrag zur Erhaltung der „noch“ existierenden Ortsbilder mit (im Gegensatz zum Denkmalschutz) Werkzeugen für eine Weiterentwicklung. Ich bin überzeugt, das würde großen Anklang finden. Gerade auch bei Bauträgern, da wir ihnen gute Wege zeigen könnten – und die noch vorhandenen Dorfbilder könnten erhalten bleiben.
Sie waren Projektleiterin der städtebaulichen Studie „Ein Viertel Stadt” (2000). Sie setzte sich mit der Belebung des ehemaligen jüdischen Viertels in Hohenems auf sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene auseinander. Im Jahr 2000, wenn man das so sagen darf, war Hohenems noch ein Städtchen, das tief im Dornröschenschlaf lag. Heute zählt Hohenems zu den interessantesten Vorarlberger Städten. Können Sie diese Entwicklung – von der Studie hin zum heutigen Hohenems – beschreiben?
Nadler-Kopf: Es ging damals um die Wiederbelebung des jüdischen Viertels, das ziemlich heruntergekommen war. Ich konnte internationale Architekten gewinnen, sich über zwei Jahre mit Hohenemser Zentrum großräumig zu beschäftigen. Bis dahin glaubte man noch, Innenstädte können nur mit großen Verkaufsflächen überleben. Danach kam die Kehrtwende: weg von der Einkaufsstadt hin zur Kulturstadt. Hohenems beweist mittlerweile, es geht auch mit kleinen Strukturen. Wichtig dafür waren ein paar engagierte Geschäftstreibende und ein ambitionierter Bauträger. Es braucht eben immer viel Engagement und Leidenschaft, um etwas zu bewegen.
Ortsbildinventar für die Landeshauptstadt Bregenz 2016
In der Kurzfassung des Ortsbildinventars erfahren Sie mehr über die Analyse und Bewertung des Stadteils „Dorf“. Darin wurden Vorschläge für eine künftige Bebauung und Verdichtung unterbreitet.
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