DAS GUTE DER VERGANGENHEIT SINNVOLL FÜR DIE ZUKUNFT EINSETZEN
Frau Varga, wie kommt man eigentlich zur Trend- und Zukunftsforschung?
Varga: Als ich meinen Weg in die Studien- und Berufswelt gestartet habe, da gab ́s dieses Feld Trend- und Zukunftsforschung noch nicht wirklich. Ich bin quasi durch Zufall drauf gestoßen. Von meiner Ausbildung her bin ich Soziologin. In diesem Zusammenhang habe ich mich mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinandergesetzt, in welche Richtung entwickeln wir uns, welche Auswirkungen hat das auf uns Menschen, die Forschung und auch Organisationen.
Was ist essenziell für die Zukunftsforschung?
Varga: (schmunzelt) Diese Frage wird verständlicherweise oft gestellt. Eine wichtige Linie für unsere Arbeit ist: was ist in der Vergangenheit passiert, was passiert in der Gegenwart. Kann ich sich wiederholende Muster erkennen? Solche Muster des Wandels gibt es tatsächlich im gesamten Verlauf der Menschheitsgeschichte. Neben der Soziologie habe ich Mediävistik studiert, und dort erkennt man schon im Mittelalter, wie sich Dinge verändert haben und man kann klare Muster identifizieren. Solche Muster sind gute Indikatoren, um Prognosen für die Zukunft zu geben. Aber das ist nicht alles. Wir arbeiten stark mit Statistiken. Ein Beispiel: Wir können den Zahlen entnehmen, dass die Menschen immer länger leben, aber auch länger agil und aktiv bleiben. Das sind Faktoren, die man sehr gut dazu verwenden kann, um die Zukunft zu projizieren. Wir wissen heute auch, dass, statistisch gesehen, 30 Prozent aller Mädchen, die geboren werden, 100 Jahre alt werden können. Solche Dinge verwenden wir, um die Zukunft zu betrachten, man schaut sich das dann tiefergehend an, findet Knotenpunkte und zeigt Zusammenhänge. Der Witz an der ganzen Sache ist natürlich: man kann die Zukunft nie voraussagen. Das ist auch gut so. Man kann aber schauen, was können wir tun, damit es eventuell in eine bestimmte Richtung geht. Ich sage immer: es gibt nicht die eine Zukunft, sondern immer mehrere Zukünfte.
Beeinflussen Sie die Zukunft?
Varga: Je nachdem, in welchem Kontext man unterwegs ist: ja. Aber, ich glaube, wir alle beeinflussen die Zukunft. Das hat auch etwas Hoffnungsvolles, denn das zeigt, wir sind dem, was gerade passiert, nicht gänzlich ausgeliefert. Sondern wir alle gestalten mit unseren Entscheidungen in der Gegenwart die Zukunft mit. Wir können uns der Zukunft – zum Glück – nicht gänzlich unterwerfen. Aber wir können sie etwas beeinflussen.
Wie erkennt man den Wandel?
Varga: Es gibt Megatrends, das sind die großen Entwicklungen. Diese dauern im Regelfall dreißig bis fünfzig Jahre! Darunter fallen die Globalisierung, die Individualisierung, die Urbanisierung, demografische Entwicklungen. Dann schauen wir, welche, Phänomene daraus entstehen könnten. Nehmen wir die Individualisierung her, sie hat uns zu einer atomisierten Gesellschaft gemacht. Es gibt jetzt für uns zu viel, es ist alles zu fragmentiert. Die Menschen haben aktuell die Orientierung etwas verloren. Die Kernfamilie schwindet, die Scheidungsrate steigt, theoretisch hat man viel zu viele Optionen. Das sieht man gerade bei den jüngeren Menschen. Gehe ich nochmal ins Ausland? Soll ich mir diesen oder jenen Partner auf Tinder aussuchen? Das ‚sich festlegen‘ ist ob der vielen Möglichkeiten kaum noch machbar. Das ist die Kehrseite von diesen Megatrends. Wir schauen dann, wie könnten hier Lösungen gefunden werden. Ob das jetzt auf einer kommunalen oder lokalen Ebene ist, oder auch in einem Betrieb – dafür gibt es kein Handlungsschema. Außerdem: Jeder Trend hat einen Gegentrend. Das sehen wir bei der Individualisierung. Die Gesellschaft ist überfordert und der Gegentrend zeigt sich in der Suche nach neuen Gemeinschaftsformen – sei es beim Wohnen oder Arbeiten – da ist eine Sehnsucht nach einer Community da. Wir haben gute Instrumente in der Hand, um zu sehen: ist das ein Megatrend, ist das nur ein Hype – und welches Handeln wäre hier sinnvoll?
Geht der Wandel zu schnell für uns?
Varga: Absolut. Das ist so wichtig, das auszusprechen und anzuerkennen: Es ist ganz normal, dass alle Menschen überfordert sind. Nichts ist sicher, alles scheint aus den Fugen zu geraten, man kann gar nichts mehr planen, die Zukunft war noch nie so unsicher wie jetzt. Eine Überforderung und eine Unlust beziehungsweise Zukunftsangst ist da programmiert. Angst sorgt bei vielen in der Gesellschaft für Aggression, bei manchen für eine Schockstarre und das ist sehr schwierig, das zu überwinden.
Sie setzen sich intensiv mit Bauen und Wohnen auseinander. Was ist dort der Trend?
Varga: Das Wohnen hat sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder verändert. Diese Haltung, dass alles so bleiben muss, wie es war, erachte ich für wenig sinnvoll. Dinge verändern sich! Aktuell verändert sich unter anderem die Arbeitswelt stark und da muss sich dann auch das Wohnen verändern. Wohnen ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wir kommen aus einer Zeit, die ich gerne das Familie-Mustermann-Zeitalter nenne. Da war die Mutter bei den Kindern zu Hause, der Vater bei der Arbeit. Dass in so kleiner Familienform zusammengewohnt wird, gab es vorher zum Beispiel nicht. Es wurde in größeren Konstrukten gewohnt. Das Vater-Mutter-Kind(er)-Wohnen ist eigentlich ein Novum und das löst sich auch jetzt etwas auf. Ganz wichtig ist mir aber, es geht nicht um ein ‚Entweder-oder‘, sondern um ein ‚Sowohl-als-Auch‘. Es muss verschiedene Wohnformen geben. Die Scheidungsrate geht kräftig bei der Altersgruppe der über 50-Jährigen nach oben. Wo und wie sollen diese wohnen? In Städten haben wir extrem viele Single-Haushalte, zum Teil bis zu 50 Prozent. Da ist eine große Vereinsamungsgefahr gegeben. Wie können wir dem begegnen? Es wird in Zukunft natürlich Einfamilienhäuser geben. Aber es wird auch Gebäude oder Quartiere geben, in denen man sich Flächen gemeinschaftlich teilt. Dass jeder klarerweise seinen eigenen Wohnraum hat, aber es optional gemeinschaftlich nutzbare Flächen gibt. Man sollte das Gute aus der Vergangenheit mit Neuem, für die Bedürfnisse der Zeit Sinnvollem, füllen.
Es gibt nicht die Zukunft. Es gibt mehrere Zukünfte.
Mag. Christiane Varga
Expertin für Wohnen und nachhaltiges Bauen, Zukunftsinstitut
Wohin geht es mit dem Eigentum, auch mit dem Wissen, dass Kaufen immer schwieriger wird?
Varga: Ja, das ist ein echtes Problem. Da ist gerade eine sehr massive Zuspitzung am Markt, die das Ganze sehr hitzig macht. Eigentum zum Beispiel als Absicherung ist für viele Menschen in der aktuellen Situation ganz wichtig. Da es Sicherheit in unsicheren Zeit darstellt. Das ist nachvollziehbar. In dieser Situation sehe ich die Kommunen in der Pflicht – leider gibt es auch hier keine Schema-F-Lösung. Aber die Kommunen müssen darauf achten: was ist gerade wichtig, was ist in unserer Gegend das größte Problem, was braucht es, damit sich das wieder entspannt? Stichwörter: Baulandhortung, Bodenversiegelung, Leistbarkeit. Außerdem, wie schon erwähnt, leben wir ja alle viel länger und in unserer aller Leben passiert einfach mehr. Dazu gehören auch Umzüge. Deshalb ist es ganz unwahrscheinlich, dass man, wenn man ein Haus baut, dort – statistisch gesehen – das ganz Leben und, besonders, in ein und derselben Konstellation verbringen wird. Wenn Lebensstile so flexibel werden, dann kann die Antwort darauf nicht starr sein. Es kann also nicht sein, dass sich jeder für diese eine Lebensphase ein Haus baut. Deswegen glaube ich, dass man darauf blicken muss, welche Modelle passen für die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen. Was brauchen ältere Menschen, wenn die Kinder aus dem Haus sind, oder, wenn nur noch eine Person im Haus wohnt, diese Person aber noch viel zu jung für ein Altenheim ist. Hier müssen Lösungen geschaffen werden. Wie können wir den vorhandenen Wohnraum verfügbar machen für jüngere Menschen, die gerade diesen Raum be- nötigen würden und wie können wir attraktive Lösungen für die älteren Bewohner bieten?
Eigentum ist ja auch eine Mentalitätssache, hat viel mit Mindset und innerer Haltung zu tun. Brauche ich das, um vor anderen gut dazustehen oder brauche ich das, weil das Bedürfnis nach Nestbau vorhanden ist oder auch aktuell, um vor stetig steigenden Mieten gefeit zu sein. Das ist ein extrem komplexes Feld, weil wir hier Faktoren haben, die wir nicht von einer Stelle aus lenken können – gestiegene Zinsen und Co. Deshalb brauchen wir flexible Modelle. Das Leasen von Häusern könnte eine Möglichkeit sein. Wir sollten von dem ‚Entweder-oder‘-Gedanken weg kommen.
Welche Raumplanung braucht es dazu?
Varga: Mikro- und Makroebene müssen hier berücksichtigt werden. Auf der Mikroebene muss darauf geachtet werden: wie verändern sich die Grundrisse, aber auch welche Materialien sind die richtigen? Auf der Makroebene muss darauf geschaut werden: wie stehen die Gebäude, der öffentliche Raum und auch das Dazwischen zueinander? Da wurden viel zu oft Insellösungen umgesetzt, die den Kontext (Umgebung, vorhandene Architektur, Mobilität, Nahversorgung, Ästhetik, Landschaft) nicht berücksichtigten. Das führt dann zur Verschandelung des Dorf- oder Stadtbildes. Hier sollten Vorgaben gemacht werden, das ist ein schmaler Grat, aber am Ende des Tages gehört der öffentliche Raum auch allen und das gehört berücksichtigt.
Wie muss die Entwicklung beim Bauen und Wohnen vonstatten gehen?
Varga: Lebendiger, menschenfreundlicher und sinnvoll. Es macht keinen Sinn, alles separiert zu denken. Wohnen und Leben sollte jeder, wie er mag. Idealerweise gibt es Schnittstellen – zwischen Alt und Jung und den verschiedenen Wohnformen.
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